Wann sind Produkte "der Öffentlichkeit zugänglich" im Sinne von Art. 54(2) EPÜ?

Rechtsprechung | 29.06.2023

Es gibt eine neue und sehr interessante Vorlage an die Große Beschwerdekammer des EPA (T438/19). Die Vorlagefragen beziehen sich auf den Fall, dass es sich bei dem interessierenden Stand der Technik um ein Erzeugnis handelt, zu dem zusätzliche Informationen verfügbar sind, z. B. in einer Broschüre oder dergleichen, die auf den ersten Blick ein späteres Patent für ungültig erklären könnten, das zugrunde liegende Erzeugnis aber nicht in befähigender Weise offenbart wurde. Dies kann zum Beispiel der Fall sein, wenn das Produkt nicht ohne unangemessenen Aufwand analysiert und reproduziert werden kann.

Timo Pruß, Partner am Standort Düsseldorf bei HOFFMANN EITLE, vertritt den Patentinhaber in diesem Verfahren und hat zu den Hintergründen dieses Falles auch in einer aktuellen HE Quarterly-Ausgabe berichtet. Die Entscheidung der Beschwerdekammer kann wertvolle Hinweise darauf geben, welche Informationen über ein Erzeugnis oder dessen Herstellung am Prioritätstag eines Patents bekannt sein müssen, damit es zum Stand der Technik gehört.

Die Fragen, die der Beschwerdekammer vorgelegt wurden, lauten

  1. Ist ein Erzeugnis, das vor dem Tag der Einreichung einer europäischen Patentanmeldung in den Verkehr gebracht wurde, allein deshalb vom Stand der Technik im Sinne von Artikel 54 (2) EPÜ auszuschließen, weil seine Zusammensetzung oder sein innerer Aufbau vom Fachmann vor diesem Tag nicht ohne unzumutbaren Aufwand analysiert und reproduziert werden konnte?
     
  2. Falls die Antwort auf Frage 1 nein lautet: Sind technische Informationen über das genannte Erzeugnis, die der Öffentlichkeit vor dem Anmeldetag zugänglich gemacht wurden (z. B. durch Veröffentlichung einer technischen Broschüre, Nichtpatent- oder Patentliteratur), Stand der Technik im Sinne von Artikel 54 (2) EPÜ, unabhängig davon, ob die Zusammensetzung oder die innere Struktur des Erzeugnisses vor diesem Tag vom Fachmann ohne unzumutbaren Aufwand analysiert und reproduziert werden konnte?
     
  3. Falls Frage 1 bejaht oder Frage 2 verneint wird, welche Kriterien sind dann anzuwenden, um festzustellen, ob die Zusammensetzung oder die innere Struktur des Erzeugnisses ohne unzumutbare Belastung im Sinne der Stellungnahme G 1/92 analysiert und wiedergegeben werden konnte oder nicht? Ist es insbesondere erforderlich, dass die Zusammensetzung und der innere Aufbau des Produkts vollständig analysierbar und identisch reproduzierbar sind?

Weitere Erklärungen zu dem Verfahren können im KluwerPatent Blog (auf Englisch) gelesen werden (Co-Autor Thorsten Bausch).

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